Sterben für die Kunst
Gedanken zur 1. deutschen Synchronfassung von Disneys Schneewittchen

Dass die erste Synchronfassung Schneewittchens eine gesonderte Position einnimmt, steht wohl außer Frage, gehört sie doch zu einer der ersten deutschen Sprachbearbeitungen überhaupt. Dahinter verbirgt sich nach neuesten Erkenntnissen jedoch eine Geschichte, die in historischer Hinsicht Aufmerksamkeit verdient. In zwei voneinander unabhängigen literarischen Werken tauchten inzwischen Hinweise auf, welche nun kaum noch Zweifel aufkommen lassen, dass die Synchronfassung tatsächlich vor Kriegsbeginn 1939 in Holland erstellt wurde. Indizien und naheliegende Mutmaßungen lassen dabei Schlüsse zu, die ich hier einmal nieder schreiben möchte. Ich betone ausschließlich, dass dies nur meine persönlichen Gedanken zu einem Thema sind, das uns leider wieder einmal in Deutschlands dunkelste Vergangenheit zurückversetzt.

Kurt GerronDie Geschichte beginnt mit Kurt Gerron. Der 11. Mai 1897 in Berlin geborene Sohn einer Kaufmannsfamilie widmete sich nach seiner Militärzeit im Ersten Weltkrieg der Schauspielerei. Von den Bühnen des Kabaretts über kleinere Stummfilmrollen führte ihn der Weg schließlich auch hinter die Kamera. Unter der Regie von Erich Engel wirkte Gerron am Berliner Schiffbauerdamm-Theater an der sensationellen Aufführung von Brechts Dreigroschenoper mit. Der Beginn des Tonfilms war ebenfalls keine Hürde für ihn, auch hier konnte er überzeugen. In Der blaue Engel spielte er an der Seite von Emil Jannings und Marlene Dietrich, in Die Drei von der Tankstelle neben dem kommenden Filmidol Heinz Rühmann. Jedoch begannen mit dem ständig wachsenden Einfluss der Nazis 1931 erste Einschnitte in sein Arbeitsleben; die gerade begonnene Karriere als Regisseur wurde dem Mann mit jüdischen Wurzeln sofort untersagt. Mit der Machtübernahme 1933 wurde der Boden Deutschlands für Gerron zu gefährlich, er floh mit seiner Frau zunächst nach Paris, anschließend über Österreich ins niederländische Amsterdam. Während ihm in Frankreich und Österreich eine Fortführung seines Berufes verwehrt wurde, erhielt Gerron in Amsterdam wieder Engagements bei Revuen und Kabaretts, schließlich auch Angebote für den Regiestuhl. Er drehte einen Detektivfilm, eine Dokumentation über einen niederländischen Rundfunksender sowie eine in Rom gedrehte italienisch-holländischen Koproduktion. Zu dieser Zeit muss der Kontakt zu Walt Disney zustande gekommen sein, der Gerron den Auftrag erteilte, das Schneewittchen ins Niederländische zu transferieren. Dass Walt Disney dem Mann eine gleichzeitige Vertonung ins Deutsche nahe legte, halte ich für zweifelhaft. Eher ging die Intention von einer (oder mehreren) deutschen Filmgesellschaften aus, wie etwa Bavaria oder UFA, die unlängst versucht hatten, Disneys Meisterwerk nach Deutschland oder Österreich zu holen, jedoch an den harten Devisenbestimmungen scheiterten. Holland barg dagegen einen bis dahin nazifreien Draht zur Außenwelt und Kurt Gerron hatte gute Kontakte zu weiteren jüdischen Emigranten aus Deutschland. Wer waren diese Personen?

Die Spur führt zu mehreren Theaterbühnen in Amsterdam, zum einen die Hollandse Schouwburg, in der Gerron selbst alsbald wieder als Kabarettist tätig wurde, sowie das Theater der Prominenten und La Gaité, dessen Leitungen die ebenfalls emigrierten Kabarettisten Willy Rosen und Rudolf Nelson übernahmen. Die Häuser wurden die Auffangstationen politisch verfolgter Künstler, neben Otto Wallburg und Hortense Raky Personen wie Kurt Lilien, Siegfried Arno, Trude Berliner, Rita Georg, Hermann Feiner, Max Ehrlich, Franz Engel (evtl.), Willy Stettner, Szöke Szakall, Camilla Spira oder die österreichische Schauspielerin und Sängerin Silvia Grohs. Hier dürfte sich die deutsche Schneewittchen-Besetzung mit Sicherheit früher oder später heraus kristallisieren. Gerron, der, wer weiß, vielleicht selbst einen der Zwerge intoniert haben mag, wurde 1940 Direktor der Hollandse Schouwburg. Im Mai eben diesen Jahres fielen die Nazis schließlich auch in die Niederlande ein.

Der Einfluss deutscher Emigranten am niederländischen Filmschaffen war nicht zu verachten. Die Fachliteratur spricht von einer Beteiligung von etwa 75% in den Exiljahren 1933 bis 1940. Die Naziherrschaft beendete dies von einem auf den anderen Tag. Durch Arbeitsverbote, Zwangsmaßnahmen und Abschottungen in ganze "jüdische Viertel" überzog das deutsche Terrorregime alsbald auch unser westliches Nachbarland. Die Hollandse Schouwburg wurde zur Joodsche Schouwburg umbenannt. Durch Diktate der besetzten Amtshäuser wurde das Kabarett gar für offizielle Anlässe wie "verbotene" Hochzeiten genutzt. Schließlich griff auch hier die Inquisition des Hakenkreuzes immer mehr ihre Hände nach ihren Opfern aus. Wer konnte, flüchtete, bzw. flüchtete erneut. Andere, wie Otto Wallburg oder (darf man hier auch gerne erwähnen) Familie Frank mit der kleinen Anne, versuchten unterzutauchen. Kurt Gerron wurde angeblich von Kollegen wie Marlene Dietrich und Peter Lorre dazu ermutigt, nach Amerika zu kommen, was er aus künstlerischen Gründen ablehnte. Andere Stimmen sagen, er habe in seinem Arbeitswahn einfach nur den richtigen Zeitpunkt verpasst.

Den weiteren Verlauf der Geschichte kann man in jedem vernünftigen Filmlexikon nachlesen. Die noch standhaften Theaterbeschäftigten sowie viele, die untertauchten, wurden früher oder später verhaftet, nach Theresienstadt deportiert und später in diversen Konzentrationslagern ermordet - Sobibor, Bergen-Belsen, Auschwitz. Kurt Gerron, 1943 nach Westerbork interniert, 1944 weitergereicht nach Theresienstadt, ließ selbst während seiner Gefangenschaft nicht von der Schauspielerei ab und gründete das Häftlings-Kabarett Karussell. Später wurde er quasi mit vorgehaltener Waffe gezwungen, Nazi-Propaganda auf Zelluloid zu bannen - und er, im festen Glauben daran, sein Filmschaffen könne ihn den Holocaust überleben lassen, tat wie ihm geheißen. Am 28. Oktober 1944 wurde er in Auschwitz vergast, exakt einen Monat, nachdem Willy Rosen hier das gleiche Schicksal ereilte.

Unter den Gefangenen befand sich auch Frieda van Hessen, Gesangsstimme des holländischen Schneewittchens, welche das KZ überlebte und sich nach einer erfolgreichen Opernkarriere bis heute (so hoffe ich) bester Gesundheit erfreut - die Dame müsste heute runde 100 sein. Auf ihrem Blog kann man folgenden Eintrag finden:

Walt Disney’s Snow White film was released in America, and the company was looking for a Dutch Snow White to sing the role for the Dutch version of the movie. Madame Schoenberg was to hold one of her famous pupil concerts again, and I was to perform the famous “Bell Song” from the opera Lakme by Delibes. When the performance came to an end, a gentleman by the name of Max Tak approached me. He invited me to meet with him and Kurt Gerron, the famous filmmaker in Germany, who had been contracted to make the European versions of the Disney film. I was hired for the part of Snow White in the Dutch version, which is still being played today for the children during their summer vacation time. It was voted the best musical version in Europe.

Paula WesselyTrotz dieser immer wahrscheinlicher werdenden Theorie über die Synchronentstehung bleiben natürlich Fragen offen. Hauptknackpunkt dabei ist der wirtschaftliche Nutzen einer 1938 erstellten deutschen Fassung, wo auch immer sie entstand. Da Deutschland und Österreich hier unter den Tisch fielen, blieben nur die Schweiz und der deutschsprachige Teil der damaligen Tschechoslowakei als Absatzmarkt übrig. Na ja, was soll ich als Disney-Verehrer dazu sagen? Auch wenn es jetzt wirklich reichlich spekulativ wird, ziehe ich hier eine Parallele zum Film The Three Caballeros, bei dem eine eventuelle Vorproduktion für Frankreich, Italien und Deutschland immer noch im Raum steht. Er wurde 1944 in den USA uraufgeführt, zu einer Zeit also, als von einem europäischen Absatzmarkt nun wirklich keine Rede sein konnte. Trotzdem hören wir heute Clarence Nash (Donald Duck) sowie Aloysio Oliveira (José Carioca) deutsch sprechen. Die von mir als schlecht bezeichnete Einbettung Georg Thomallas in diese Tonspur könnte ein Indiz dafür sein, dass in einer Ur-Fassung für Deutschland der Gockel Panchito vielleicht ganz anders besetzt und zehn Jahre später von Thomalla lediglich "übergekleistert" wurde. Manche Passagen benötigen meiner Meinung nach sowieso keine Übersetzung. Worauf ich hinaus will ist, dass Walt Disney den Glauben, die Mittel und den Willen besaß, über den Tellerrand hinaus zu schauen und weitaus zukunftsträchtiger zu planen, als es seinen Finanzberatern vielleicht lieb war. Und damit kommen wir zu Paula Wessely, Frau von Attila Hörbiger, Mutter von Christiane Hörbiger und Großtante von Christian Tramitz. Um 1949 berichtete einmal eine österreichische Illustrierte von Kontakten des Disney-Konzerns mit Frau Wessely betreffend Synchronfassungen; sie selbst sei über dieses Vorhaben jedoch sehr reserviert gewesen. Es war von Schneewittchen, Pinocchio und Bambi die Rede. Bis heute hält sich aufgrund dieser vagen Information das Gerücht, Frau Wessely wäre das deutsche Ur-Schneewittchen gewesen. Hörproben haben jedoch ergeben, dass sie dafür eher nicht in Frage kommt. Da ich diesen Artikel nicht gelesen habe, möchte ich zwar nicht anzweifeln, dass ein Kontakt auch statt fand, wohl aber, wofür Frau Wessely hätte eingespannt werden sollen. Zum einen kann ja durchaus über mehrere Disney-Klassiker gesprochen worden sein, schließlich stand ja an, die Filme für den deutschen Markt früher oder später zu bearbeiten. Vielleicht hat man ihr auch ein Angebot für mehrere Rollen unterbreitet, was sie dann großzügig ablehnte. Interpretiere ich die Geschichte einmal munter weiter, hat die ihr zugedachte, übergreifende "Hauptrolle" dann Friedel Schuster bekommen: Bambis Mutter, Dumbos Mutter (Gesang), Pinocchios Fee und (aufpassen!) Cinderellas Stiefmutter, alles Synchron-Rollen, die zwischen 1950 und -52 entstanden. Cinderella brachte mich dann auf einen Gedanken, auf den ich vorher gar nicht gekommen bin. Frau Schuster, die nur 4 Jahre älter war als Paula Wessely, wäre für eine Cinderella längst zu alt gewesen - und das gleiche behaupte ich einmal von ihrer Kollegin, die 1949 bereits 42 Lenze zählte. Zum Vergleich: Uschi Wolff war 1966 junge 23, Manja Doering 1994 gar erst 17, Hortense Raky 1938: die goldene Mitte - 20. Adriana Caselotti, das Original-Schneewittchen, war 1937 21 Jahre jung.

Doch spinnen wir auch die andere Variante einmal durch. Paula Wessely wird also wirklich 1949 für die Hauptrolle in Schneewittchen in Erwägung gezogen, und das, obwohl die 1. Synchro bereits 1948 in Österreich lief - äähm - Da darf ich mich doch einmal fragen - auch hier wieder sehr spekulativ, weil es ja in die Geschichte hinein passen muss - warum man über eine Neuvertonung des Schneewittchens nachgedacht haben könnte. Vielleicht, weil der UFA oder Bavaria die geschichtlichen Hintergründe, wie ich sie oben nachgezeichnet habe, vielleicht ZU brisant waren, um einen wirtschaftlichen Beginn Disneys in Deutschland gerade mit einer (ich muss es hier einfach so nennen) Juden-Fassung beginnen zu wollen, VORAUSGESETZT die deutsche Presse oder die Öffentlichkeit hätte dies damals überhaupt herausgefunden - sie hat es ja bis heute nicht. Und nun setze ich dem ganzen die Krone auf und stelle mir einen Walt Disney vor, der mit Tacheles auf den Tisch haut und urteilt, dass es in den Augen der Öffentlichkeit noch viel brisanter wäre, wenn eine deutsche Tonspur in den Giftschrank käme, so wie man vor Kurzem noch die Beteiligten in die Gaskammer steckte ... uuuh, jetzt bin ich aber wirklich über das Ziel hinaus geschossen, ich weiß, ich weiß .... aber wie gesagt, dies sind lediglich meine Gedanken bezüglich einer Geschichte, deren Wahrheit wohl noch lange im Verborgenen ruhen wird ..... 

veröffentlicht am 22. November 2014

- In dem Buch Die Rollen der Paula Wesseley von Edda Fuhrich (EV 2007) geht klar hervor, dass Frau Wesseley ab dem 24.01.1926 am Raimundtheater in Wien unter der Regie von Emil Janko die Königin in "Schneewittchen und die sieben Zwerge" gespielt hat. Warum hätte man sie, wenn sie schon 1926 die Königin gespielt hat, rund 11 Jahre später (im Alter von 30) als das jugendliche Schneewittchen casten sollen?

- Beitrag von Florian Schmidlechner am 25. November 2014

- Die Verhandlungen, Schneewittchen nach Deutschland zu bringen, wurden im März 1939 offiziell für gescheitert erklärt. Danach gelangte die bereits synchronisierte deutsche Fassung unter der Lagernummer 3828 ins Berliner Reichsfilmarchiv. Hier ein Scan der entsprechenden Aktennotiz. Man beachte bitte das kleine Kästchen oben rechts.

- Paula Wessely spielte tatsächlich einmal in einem Schneewittchen mit. Ab dem 24.01.1926, vier Tage nach ihrem 19ten Geburtstag, gab sie am Raimund Theater in Wien unter der Regie von Emil Janko .... NICHT die liebreizende Hauptrolle, sondern, man staune, die Königin. Das sollte jedem zu denken geben, der ihr 11 Jahre später immer noch das Schneewittchen andichten möchte.

veröffentlicht am 7. Dezember 2014

- Auf die E-Mail einer mit ihr befreundeten Journalistin hat Maresa Hörbiger zu Protokoll gegeben, dass ihre Mutter so etwas nicht nötig gehabt hatte.

Quelle vom 13. Dezember 2014, veröffentlicht am 30. Mai 2015

- Pem’s Privat-Berichte Nr. 111 vom 15.06.1938 und Nr. 114 vom 06.07.1938, niedergeschrieben von Paul Marcus, beweisen nun eindeutig die Entstehung der deutschen Fassung im unmittelbaren Anschluss an die holländische durch Kurt Gerron. Neben ihm werden als Mitwirkende erwähnt: Kurt Lilien, Otto Wallburg, Siegfried Arno, Dora Gerson, Hortense Raky und "eine neue Frau Stern". Wer letztere Frau Stern ist, kann niemand sagen. Laut einer anderen Quelle soll Gerrons Frau Charlotte Ahnert ebenfalls mitgewirkt haben. Offiziell ließ diese sich jedoch zum Schutz ihrer Kinder von Gerron scheiden. Der wiederum soll in Holland mit einer gewissen Ilse Rein liiert gewesen sein. War Frau Ahnert unter Pseudonym(en) unterwegs?

Quellen, Hinweise und Kontaktaufnahmen/-Versuche zu diesen Recherchen:

Charles Lewinsky "Gerron"                       (per E-Mail)
Volker Kühn      (Autor, Regisseur, Historiker) (per E-Mail)
Maresa Hörbiger                                 (per E-Mail)
Prof. Dr. Claudia Maurer Zenck, Institut für Historische Musikwissenschaft, Hamburg
Nikolaus Paryla und Stephan Paryla-Raky
Kurt Ifkovits   "Die Rollen der Paula Wessely"
Mario Dreßler   "Im Reiche der Micky Maus"

Carsten Laqua   "Wie Micky unter die Nazis fiel"
Kay Weniger     "Es wird im Leben dir mehr genommen als gegeben ..."
Markus Spieker  "Hollywood unterm Hakenkreuz"
J.B. Kaufman    "The Fairest One of All: The Making of Walt Disney's Snow White and the Seven Dwarfs"
filmportal.de
hollandscheschouwburg.nl
Wikipedia


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